Kurzgeschichten …wie sie das Leben schreibt

Buchcover Kurzgeschichten

In diesem Band 32 Kurzgeschichten, wie das Leben selbst sie schreibt.

Sie führen den Leser über Deutschland in die Schweiz, nach Kamerun – ja selbst bis in das ferne Indien und gar Tibet.

Einige heiter, manche traurig, doch alle unterhaltsam und geeignet zum Nachdenken.

Der Autor bemüht sich um eine gefeilte, gehobene Sprache und ist weit entfernt vom heutigen, leider oftmals gebrauchten ‘Telegramm-Stil’.

Leseprobe aus KURZGESCHICHTEN

Der Stierbiss

Immer wieder bekommt man zu hören, es gäbe in der heutigen Zeit keine Wunder mehr.

Dieser Klage möchte ich entschieden widersprechen. – Es gibt sie noch ! Sie zweifeln ? –

Dann will ich Ihnen hier an dieser Stelle von einer Begebenheit berichten, welche sich vor nunmehr fast zwei Jahren zutrug – und an der ich nicht nur unmittelbar beteiligt, sondern deren Hauptperson ich sogar war. ….

Schauplatz war ein kleines, indisches Dorf im Staate Madhya Pradesh – in einem Distrikt, welcher Baster genannt wurde ….

Ich saß an einem Markttage in der kleinen Teestube, welche von einem zugewanderten Bengali, der nun auch schon viele Jahre am Orte ansässig – und hier mit seiner Familie heimisch geworden ist, betrieben wird.

Auch ist dieser Bengali Besitzer eines Kramladens, in welchem man Lebensmittel, Rauchwaren und verschiedene andere nützliche Waren erstehen kann, während man gemütlich bei einem Tee oder einem kleinen Imbiss sitzt.

An jenem Tage also saß ich, wie so oft, auf einer Bank unter dem Vordach der zur Straße hin offenen Teestube, trank meinen Tee und schaute dem Treiben auf der Straße zu. Außer mir waren nur noch zwei oder drei weitere Gäste anwesend, so dass Mojumdar – so heißt der Wirt – nicht viel zu tun hatte – und sich schon bald zu mir setzte, um die letzten Neuigkeiten mit mir auszutauschen.

Da sich der Sommer seinem Ende zuneigte, kamen wir freilich sehr bald auf das wichtigste Thema – den zu erwartenden Monsunregen – zu sprechen. Wie jedes Jahr bei dieser Gelegenheit, so stellten wir auch nun Betrachtungen darüber an, ob der Regen wohl kommen; ob er ausreichend – oder gar übermäßig ausfallen – oder am Ende doch ausbleiben würde. Das Resultat dieser Erörterung war vorauszusehen:

„Man wird den Göttern opfern müssen,“ sinnierte Mojumdar.

„Wie jedes Jahr,“ stimmte ich bei, „was soll man sonst auch tun ?“

Wir waren uns einig – und der Malik erhob sich, um erneut die Teegläser zu füllen. – Ich nahm das meinige in Empfang – dabei fiel Mojumdars Blick auf meine rechte Hand, welche mit einem weißen Verband umwickelt war.

„Was ist mit deiner Hand, Maikalji,“ wollte er – auf dieselbe zeigend – wissen, während er sich wieder mir gegenüber auf seinem Stuhl niederließ.

„Eine dumme Sache,“ brummte ich, indem ich die Hand leicht erhob, „ich wurde gebissen.“

Erstaunt blickte der Malik mich an:

„Gebissen ? – Doch nicht etwa von einem Hund ?!“

Es war Mojumdar – wie auch allen anderen Anwohnern – bekannt, dass ich noch nie von Hunden – und sollten sie ansonsten auch noch so bösartig sein – auch nur angeknurrt oder schief angesehen wurde. – Im Gegenteil: Alle Hunde liebten mich – und ich liebte sie ! – Das ging so weit, dass ich mich bis vor wenigen Jahren noch im Verdacht befunden hatte, im Besitz irgendeiner geheimnisvollen Medizin zu sein. – Mittlerweile hatte man sich jedoch daran gewöhnt. –

Deshalb auch der erstaunte Blick meines Freundes.

„Nein, nein,“ versicherte ich ihm, „natürlich kein Hund. – Eine Kuh hat mich gebissen.“

„Ha; hahaha ! – Eine Kuh hat dich gebissen ! – Ich erinnere mich sehr gut : Vor acht Tagen wolltest du mir weismachen, dass die Frauen in deiner Heimat Schnurrbärte tragen ! Ha,ha; dir fällt doch immer etwas Neues ein !“

Er wollte sich schier ausschütten vor Lachen.

„Frau, – hast du gehört; – Maikal wurde von einer Kuh gebissen !“

Seine Frau sowie die anderen Gäste fielen in das Gelächter ein. – Nachdem sich die allgemeine Heiterkeit etwas gelegt hatte, schüttelte ich ernst den Kopf und versicherte:

„Du irrst, Bruder. – Es hat mich wirklich und wahrhaftig eine Kuh gebissen.“

„Aber Maikalji, – Kühe beißen nicht. Du kannst fragen, wen immer du willst; – Jeder wird dir bestätigen, dass Kühe nicht beißen !“

„Nun, hm,“ räusperte ich mich, „es stimmt, was du sagst. – Genaugenommen war es auch gar keine Kuh, sondern ein Stier.“

Mojumdar wurde, angesichts meiner ernsthaften Miene, nun doch etwas unsicher.

„Aber Maikal–Bruder, – wo ist da der Unterschied ?“

Jetzt war es an mir, zu lachen:

„Was,- du kennst nicht den Unterschied zwischen einer Kuh und einem Stier ?“

Fröhliches Gelächter der Anwesenden war die Folge. Mojumdar’s Frau verbarg ihr Gesicht hinter einem Stück ihres Saris und wandte sich mit bebenden Schultern ab. – Auch Mojumdar musste schmunzeln:

„Sicher kenne ich den Unterschied; – du weißt auch selbst, wie ich es meine: Stiere beißen ebenso wenig, als Kühe es tun !“

„Nun, Dieser hat es dennoch getan – jawohl !“

Mittlerweile waren die anderen Teetrinker nähergerückt; auch Mojumdar’s Frau hatte sich voll Neugierde wieder genähert. Außerdem hatte unsere lustige Runde zwei müßige Halba-Mädchen angelockt, von deren eines, das keckere, sich zu meiner Rechten niederließ; – das andere am Ende der Bank stehenblieb, indem es sich mit einer Hand leicht auf der Schulter der Freundin abstützte.

„Nun, Maikalji; – erzähle! Es interessiert uns Alle, wie sich diese Sache zugetragen hat.“

„Ja, erzähle,“ stimmten auch die beiden Mädchen der Aufforderung Mojumdar’s zu.

„Nun gut; – doch wie du siehst, mein Bruder, ist mein Glas leer. Füll’ es noch einmal auf und bringe auch für dich und die übrigen Gäste je ein volles Glas. Dann will ich euch erzählen, wie sich alles abgespielt hat – und ich bin überzeugt, ihr werdet mir dann glauben und nicht mehr über mich lachen.“

Nachdem das Gewünschte gebracht war – und ich bequem die Beine hochgezogen hatte, begann ich denn meinen Bericht:

„Es war also gestern am Nachmittag, unweit des Neuen Viertels, im Wald, als ich diesen Stier vor mir stehen sah. Ich wollte…“

„Wem gehört der Stier,“ unterbrach mich das Mädchen, welches an meiner Seite saß.

„Ich weiß es nicht. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er muss nicht aus unserer Gegend sein.“

„Wie sah er denn aus,“ warf der Malik ein, „wie groß war er ?“

„Nun,“ überlegte ich, „er war fast so hoch, als ich groß bin. – Ja, – er reichte mir bis zur Nase.“

„Oho, Maikal; – das war gewiss kein Stier aus unserer Gegend! Wer hätte von solch einem großen Tier gehört?“

Mojumdar schien wieder von Zweifeln befallen, doch ich war nicht gewillt, auch nur wenige Zentimeter zuzugestehen.

„Ich versichere dir, Bruder; – er hatte diese Größe ! – Eher noch möchte ich behaupten, dass er gar um einiges größer war.“

„Welche Farbe hatte er?“

„Oh, er war weiß – so weiß, wie das Salz, welches du in deinem Laden verkaufst – nicht das grobe graue, sondern das feine, welches du abgepackt in deinem Regal liegen hast. – Ja; so weiß war er – bis auf die Hörner – die waren wie blankpoliertes Silber – und auch die Flügel glänzten silbern.“

„….Die Flügel…. !?!“

„Ja – und die Hörner auch. – Ansonsten war er ganz weiß.“

Der Wirt schlug sich verzweifelt vor die Stirn und rief:

„Maikalji; – wo gibt es Stiere mit Flügeln?! Du willst dich über uns lustig machen!“

Ernst erwiderte ich:

„Ich sagte doch bereits, dass das Tier nicht aus unserer Gegend war. – Warum zweifelst du an meinen Worten?“

Die Umsitzenden sahen mich halb erstaunt – halb belustigt an, doch Keiner wollte offen an meinen Worten zweifeln. So lag es denn wiederum an dem armen Malik, das Verhör fortzusetzen:

„Wirst du bei Ehre bestätigen, dass, was du uns hier erzählst, die Wahrheit ist ?“

„Bei der Ehre jenes Stieres: Die Geschichte ist wahr !“

Das zweite Mädchen, das bisher stehend der Unterhaltung gefolgt war, setzte sich nun neben die Freundin – und wir Beide, die wir schon auf der hölzernen Bank saßen, mussten etwas zur Seite rücken. Der Bengali, der offensichtlich noch nicht so recht überzeugt war, wollte wissen, ob ich sicher sei, dass es tatsächlich ein Stier gewesen sei – und nicht etwa ein großer Vogel, wie zum Beispiel ein Geier oder ein Adler.

Ich musste lachen:

„Hast du schon einmal von einem Vogel dieser Größe gehört, der außerdem noch Hörner hatte ?“

Dies schien ihm einzuleuchten. – Doch wollte ich nunmehr auch den letzten Zweifel ausräumen:

„Außerdem hat er es mir selbst gesagt.“

Mojumdar fegte sein Glas vom Tisch und schien es gar nicht zu bemerken. –

„Er hat – was …??“

„Ja,“ bestätigte ich, „auf meine Frage, wer er denn sei, antwortete er mir, er sei ein weißer Stier.“

Nun mischte sich einer der anderen Zuhörer, die bisher geschwiegen hatten, ein:

„Der Stier hat geredet ?“

„Ja doch – in reinstem Sanskrit.“

Mojumdar jaulte auf. –

„In Sanskrit ! Wo gibt es so Etwas ?! – – Ja, – verstehst du denn auch Sanskrit ?“

Verblüfft blickte ich ihn an, – dann ließ ich meine linke Faust auf die Tischplatte nieder fallen:

„Du hast recht ! – Ich habe diese Sprache nie erlernt. – Das ist wirklich merkwürdig. – Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Aber es stimmt: Es i s t eigenartig ! – Ich konnte jedes Wort verstehen – und auch er verstand mich !“

Die beiden Mädchen sahen mich mit großen Augen an.

„Erzähl’ weiter !“

Auch der Wirt drängte:

„Ja, erzähle ! Warum hat er dich gebissen ?“

„Nun,“ erwiderte ich etwas verlegen, „ich war wohl selbst daran schuld. – Ich fragte ihn, ob er mir nicht eine der wunderschönen Federn seiner Flügel schenken wolle.

`Wie sollte das möglich sein, ́ brummte er. `Oh, ́ antwortete ich, `das wäre das Wenigste; – ich könnte die Feder auszupfen. ́ – Er schüttelte sein gewaltiges Haupt und brummte abermals. Dann meinte er: `Wenn du das versuchen würdest, so müsste ich dich beißen ! ́ – Ich lachte. `Stiere beißen nicht, ́ behauptete ich.

`Wer sagt das, ́ wollte er wissen. `Oh;- Alle sagen es. Mojumdar, der Wirt, sagt es, – seine Frau sagt es auch. – Jedermann weiß das. ́ `Nun, ́ schmunzelte der Stier, `dann würdest du Jedermann überzeugen müssen, dass es doch einen Stier gibt, der beißt. ́

– Ihr könnt euch denken, dass ich hin– und hergerissen war. Einerseits hätte ich gerne eine dieser wunderschönen Federn gehabt – andererseits konnte ich doch nicht sicher sein, ob das Tier seine Drohung vielleicht tatsächlich wahr machen und mich beißen würde.“

Voll Spannung sahen mich meine Zuhörer an.

„Ja – und – was geschah dann ?“

„Nun – ihr kennt mich. – Schließlich konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und griff nach einer der Federn, um sie auszuzupfen. – Schon war es geschehen – Er hatte mich gebissen !“

Erstaunte Ausrufe waren zu hören – und die Anwesenden schüttelten die Köpfe.

„Ja – so hat sich alles zugetragen;“ bestätigte ich, „falls ihr mir nicht glauben solltet, so könnt ihr den alten Ashok fragen.“

„Den alten Ashok ? Was hat denn der alte Ashok damit zu tun,“ wollte Mojumdar wissen.

„Ganz einfach,“ erklärte ich, „er war dabei.“

„Was du nicht sagst !“

Der Malik staunte.

„Wie kam denn Dieser dazu ?“

„Nun, ich hatte ihn an diesem Tag besucht. Wir saßen in seiner Hütte beisammen und tranken gemeinsam acht Flaschen Mahua-Wein Danach gingen wir in den Wald – und da ist es dann passiert.“

„Ha,“ brüllte Mojumdar, „ihr habt a c h t Flaschen Mahua-Wein getrunken ?!!“

„Ja – ich vier Flaschen – und der alte Ashok auch vier Flaschen.“

„Haha; hahaha !“

Mojumdar lief dunkel an und wischte sich die Tränen vom Gesicht.

„Maikalji – wenn i c h vier Flaschen Mahua-Wein trinken würde, so wäre ich tot. – Sollte ich es aber dennoch überleben, so könnte ich ein altes Fahrrad nicht mehr von einem Elefanten unterscheiden !

Haha, ha, haha; – acht Flaschen Mahua-Wein !“

Auch die Anderen stimmten in das Gelächter ein. Nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatten, erklärte Mojumdar:

„Ich will dir sagen, was du gesehen hast: – Du hast eine Wolke am Himmel gesehen; – da du nämlich nicht mehr stehen konntest, lagst du hilflos auf dem Rücken und sahst eine Wolke vorüber ziehen, welche du für einen Stier gehalten hast. — Hahaha !“

Das Gelächter begann erneut. – Ich ließ mich nicht irremachen.

„Bruder, – Wolken beißen aber nicht,“ klärte ich ihn auf, „hier meine verletzte Hand als Beweis, dass ich nicht phantasiert habe.“

Der Bengali wurde wieder ernst und kratzte sich am Kopf.

„Das stimmt; irgendwoher muss die Verletzung stammen.“

– Wieder blitzte es in seinen Augen auf:

„Vielleicht bist du einem Halba-Mädchen begegnet, dem du eine Feder auszupfen wolltest und das dich daraufhin gebissen hat !“

Die Mädchen an meiner Seite kicherten – und die Keckere erwiderte:

„Nein, nein – auch wir Halba-Mädchen beißen nicht.“

Erneutes Lachen war die Folge.

„Geh’ Mojumdar,“ verlangte ich, „bringe uns nochmals eine Runde Tee – dann wollen wir uns weiter darüber unterhalten.“

Dies geschah – und ich musste abermals das große Tier beschreiben und berichten, was es gesprochen und getan hatte; – doch die Runde konnte zu keinem Ergebnis gelangen. –

Da kam ein alter Gond des Weges, welcher im Rufe stand, alle Krankheiten und Verletzungen sowie deren Heilmittel zu kennen – und auch mit den Geistern in Verbindung zu stehen. – Diesen rief Mojumdar herbei und forderte ihn auf, sich meine Hand anzusehen und zu sagen, was er davon halte.

Ich löste also den Verband – und Alle starrten betroffen auf das, was sie da erblickten ….

Auch ich sah erstaunt auf meine Hand: ….. Sie war makellos ! – Kein noch so geringfügiger Kratzer war zu erkennen !

Erregt sprang ich auf und rief, die Hand emporhaltend:

„Schaut euch das an ! Ein Mirakel ! Ich bin geheilt !

……. Es muss wahrhaftig ein göttlicher Stier gewesen sein !!“

Ja, ja; – es gibt eben doch noch Wunder ! – Man muss sie nur zu erkennen wissen….

Im Übrigen hat der alte Ashok die Geschichte späterhin bestätigt – und sie wird heute noch erzählt.

Sollten Sie einmal in jene Gegend kommen, so können Sie sich gerne danach erkundigen…..